scoopcamp 2013: Unkonventionelle  Ideen für zeitgemäßen Journalismus

Von Christiane Brandes-Visbeck

 

Der seriöse Nachrichten-Journalismus hat es dieser Tage schwer. Kaum ein Leser interessiert sich ernsthaft für Politik. User klicken lieber auf Tumblr-Seiten über Kanzlerinnen-Rauten und Kandidaten-Stinkefinger, folgen der schlagfertigen Deutschlandkette in Schwarz-Rot-Gold oder kommentieren Peers Finger ("Sagen Sie jetzt nichts"). Kurz, alle reden über Politik. Aber nicht so, wie es sich der Nachrichten-Journalist wünscht. Oha.

 

Wer klickt wann Nachrichten an?

 

Was also tun, damit der Leser/Zuschauer/User wieder Lust auf "echte" Nachrichten hat? Das fragen sich heute Journalisten und Medienschaffende, die aus der ganzen Republik nach Hamburg zum "Scoopcamp 2013" angereist sind. Das Motto der Veranstaltung, zu der die Nachrichtenagentur dpa und die Medieninitiative Hamburg@Work eingeladen haben, heißt: New Storytelling. So und anders lauten die modernen Buzzwords des journalistischen Klassentreffens in Schmidts Theater direkt auf der einst sündigen Meile Reeperbahn:

 

Sie verstehen nur Bahnhof? Da sind Sie nicht allein. Damit das Thema verständlicher wird, erzähle ich Ihnen meine Eindrücke aus der Sicht von Jane aus Flensburg – einer fiktiven Person, die ich mir gerade ausgedacht habe:

 

Die Journalistin Jane arbeitet in Flensburg für einen der größten Zeitungsverlage im Norden. Bis vor kurzem hat sie – ganz normal – Meldungen und Nachrichtenartikel für die Flensburger Zeitung geschrieben. Doch in den letzten Tagen wurde die Onlineseite der Tageszeitung gerelauncht, also modernisiert. Jetzt können/dürfen/müssen auch Printjournalisten wie Jane für die Onlineausgabe schreiben. Online geht mehr. Das weiß sie, denn Jane chattet gern auf Facebook mit Freunden, liest die täglichen Twitter-Tweets der Kollegen mit den Topthemen und freut sich über Leserkommentare, die sie gelegentlich zu ihren Artikeln über die Website erreichen. Doch wie geht das mit dem Mehr? Kurz: Jane fragt ihren Chef, ob sie nach Hamburg zum dpa-Scoopcamp fahren darf.

 

Was ist ein Scoop heute?

 

Scoop ist englisch und bedeutet so viel wie eine exklusive Nachricht im Journalismus. Mit Scoops haben sich Journalisten schon immer einen Namen gemacht. Wir erinnern uns an die Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein von der Washington Post, die die Hintergründe des Watergate-Skandals aufgedeckt haben. Mit einer wasserfest recherchierten Geschichte, die ihnen Deep Throat aka Mark Felt, damals stellvertretender Chef vom FBI, eingeflüstert hat. Ihre Artikel zwangen Präsident Nixon zum Rücktritt.

In einem Scoopcamp lernen Journalisten also, wie Scooping heute so geht. Camp steht übrigens für Konferenz oder Tagung. Doch Anzugträger sind im Camp eine Minderheit. 

 

Und so versammeln sich  also Jane und rund 280 weitere Journalisten und Medienschaffende in dem Plüsch-Theater an der Sündigen Meile. Guter Start fürs Storytelling, oder? Das inspiriert ... Und tatsächlich: Einige der Teilnehmer experimentieren bereits mit neuen Medien-Projekten. Im Medialab(or) ihrer Nachrichtenagentur oder ihres Senders. Beim Verlag oder zwanglos für einen Hackday. Das Wort 'Hack' kommt übrigens aus der Computersprache und umschreibt so etwas wie eine kreative Lösung, die ein technisches Problem umgeht.

 

"Disruption" – über technische und andere Probleme

 

Und technische Probleme gibt es unzählige in der Welt des neuen Journalismus. Wer kann sie schon alle benennen? Es beginnt schon einmal damit, dass die Netze immer schneller werden. Mit der Übertragungsrate steigen auch die Erwartungen der Leser/Zuschauer/User: mehr Bewegtbild, mehr Fun, mehr Action! Neue Inhalte/Formate benötigen neue Produktionswege. Contentmanagementsysteme wollen erweitert oder ersetzt werden, unterschiedliche Inhalte aus verschiedenen Quellen herausgefiltert, neu zusammengestellt und weiterverarbeitet werden. So etwas nennt sich – wie in der Kunst – kuratieren. Ferner ist es heute möglich, riesige Datenmengen zu einem Thema einzusammeln. Und damit es nicht zu langweilig wird, Artikel mit ausführlichem Zahlenmaterial zu lesen, liegt beim Big-Data-Journalismus die interaktive Infografik voll im Trend. Tja, und wie macht man klassische Nachrichtentexte sonst noch interessant? Im Onlinesegment werden Nachrichten nicht nur einmal geschrieben, sondern ständig aktualisiert, von Lesern/Hörern/Zuschauern oder Reporter-Kollegen ergänzt, kommentiert und vielleicht zur besseren Übersicht mit einer Zeitschiene versehen. Diese Art der fließenden, bewegten Berichterstattung nennen Medienleute liquiden oder agilen Journalismus. Nicht zuletzt können nachrichtliche Geschichten heute auch aus einer Hand über verschiedene Kanäle hinweg entwickelt und erzählt werden. Das heißt transmediales Storytelling und ist richtig weit vorn. 

 

Doch größer als die technischen Hindernisse ist die Angst der meisten Menschen vor Veränderung. Gerade in der Medienbranche fürchtet sich das gestandene und verdiente Managementpersonal davor, seine Privilegien zu verlieren. In den USA begegnen erfolgreiche Macher dieser Angst mit dem Karriere-Tool der "self disruption". Mit Selbstunterbrechung umschreiben Fachleute die Fähigkeit, sich neue Ziele zu setzen und alles, was man auf dem Weg dahin nicht braucht, aufzugeben. Mittels self disruption entstehen vielfältige und verschachtelte Lebensläufe, die mit den klassischen Stationen auf einer beliebigen XING- oder LinkedIn-Seite eines beliebigen deutschen Managers nicht mehr viel gemeinsam haben. Auch hier ist "liquid", also fließend und in Bewegung bleiben, das Zauberwort.  

 

Musste das sein? Über Weltsicht und Crowdsourcing

 

Zurück zu Jane und den anderen 280 Medienmenschen, die im plüschigen Kiez-Theater den Keynotes am Vormittag lauschen. Es spricht Charles Lewis, Reporter-Legende aus Washington, D.C. Einst verließ der investigative Journalist und Producer des angesehenen "60 Minutes"-Polit-Magazins den Sender CBS, weil aus seiner Sicht die relevanten Themen nicht mehr gesendet wurden. Heute ist Lewis Professor für Investigativen Journalismus und Gründer des Center of Public Integrity. Seine erste These lautet, dass (amerikanische) Journalisten erst einmal über den lokalen Tellerrand hinausschauen müssen, um über die großen Themen der Welt berichten zu können.

Zweitens empfiehlt Lewis investigativen Journalisten crowdsourcing, also das gemeinsame Recherchieren, da große Geschichten nicht mehr von einem Reporter allein gestemmt werden können. Auch wenn deutsche Journalisten vielleicht weiter sehen als ihre amerikanischen Kollegen, ist es jedoch richtig, dass auch sie die großen Themen der Zeit nicht immer erkennen. Dies belegt beispielsweise die Reportage "Musste das sein?" der ZEIT-Magazin-Redakteurin Heike Faller, die sich gefragt hat, warum Wirtschaftsredakteure die Finanzkrise nicht haben kommen sehen. (Darüber und über weitere offene Geheimnisse hat sie gestern Abend in der Akademie für Publizistik sehr lebendig berichtet.) 

 

That is not funny: silly sells

 

Jane fragt sich gerade, was sie aus diesem Vortrag für ihren redaktionellen Alltag mitnehmen soll, 

als schon der nächste Redner angekündigt wird. Nicholas White aka @desertbunny aus Austin, Texas. Ein dynamischer dot-com-Publizist und CEO, der sich nicht dafür schämt, einer wohlhabenden texanischen Verlegerfamilie zu entstammen. Der gedankliche Sprung vom komplizierten investigativen Journalismus eines Lewis zur leichten Kost eines Onlinemissionars fällt relativ leicht. White stellt provokante Thesen zum Onlinejournalimus auf: Positive News bekommen mehr Klicks. Silly sells. Er sagt aber auch, dass die heutige Gesellschaft aufgeklärter ist, als viele denken, und dass Tabu-Themen von gestern heute keine mehr sind. Der Mann, der als Verlegerkind Publizieren mit der Muttermilch aufgesogen hat, plädiert für witzig UND informativ, für Journalismus UND neue Tools.

 

Jane googelt dailydot.com, nach eigener Aussage die "beste Quelle für Nachrichten aus dem Internet". Die Onlinezeitung überzeugt sie sofort. Die Aufmacher-Themen sind kritisch: eine Kampagne gegen Harrassment (ähnlich wie #aufschrei in Deutschland), ein unterhaltsamer Lead gegen den iPhone-Hype und Amtsmissbrauch bei der Heimatbehörde. Weiter unten dann das, worüber Netzsurfer supergern lachen: Tiergeschichten, Promi-Tumblr und Kindermund mit Mamas peinlichsten Sprüchen.

Doch seine Herkunft kann man nicht verleugnen. Am Schluss seines Vortrags ist Nicholas White wieder ganz der Verleger der Herzen: 

 

Ich will doch nur spielen. Höhere Interaktivität mit Tools aus der Gamer-Szene

  

Jane wundert sich ein bisschen, was der nächste Vortrag mit Nachrichtenjournalismus zu tun haben soll. Tomas Rawlings, Design und Production Director der britischen Video-Schmiede Auroch Digital, spricht über Games und News. Weltweit gibt es 200 Mio. Gamer, sagt er, ein unermessliches Potenzial von Nachrichten-Konsumenten. Doch diese wechseln nur ungern ihren Kanal. Hier ist die Konkurrenz zu den Nachrichten nicht der andere Nachrichtensender, sondern die Spielekonsole. Um diese Zielgruppe – und überhaupt die Kids – zu erreichen, empfiehlt Rawlings den Journalisten, ihre News interaktiv und spielerisch zu gestalten. Er nennt Cow Crusher als ein Beispiel, das während des Rindfleischskandals entwickelt wurde. Im Spiel muss man Kühe jagen und verliert, wenn man aus Versehen ein Pferd erwischt hat. Allen Verlegern rät der passionierte Spieleentwickler allen Ernstes, bei Firmen anzuklopfen, die sich auf den Vertrieb von Games für Konsolen spezialisiert haben.

Leider musste ich mittags meine fiktive Jane und die anderen 280 Medienmenschen auf dem Scoopcamp verlassen. Vielen Dank, liebe VeranstalterInnen, das waren echte Scoops, die Ihr uns heute präsentiert habt. Danke für die Inspiration und die leckere Bewirtung. Eines haben wir heute verstanden: Journalisten sollten mehr spielen.

 

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