Zur Zeitungsdebatte #tag2020: "I Have a Dream"

Foto: Center for Jewish History, NYC
Foto: Center for Jewish History, NYC

Von Christiane Brandes-Visbeck


Lange habe ich keine Tageszeitung mehr gelesen. Doch, sie fehlt mir schon. 

Die Debatte #tag2020 um die Zeitungskrise, die der Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben Anfang des Monats als Multi-Story-Projekt angelegt hat, hat mich dazu inspiriert, meine Wünsche für die Zeitung für morgen aufzuschreiben. Deshalb hier mein Debatten-Beitrag. Heute, am 50. Jahrestag der historischen Rede von Martin Luther King, überschreibe ich ihn mit dem Titel "I Have a Dream". 

 

Auf die Multimedia-Story von Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben und Kollegen habe ich mich sehr gefreut. Nicht so sehr auf das Thema "Die Zeitungskrise".

 

Laaangweilig, dachte ich mir. 2020 - die Zeitungsdebatte kaum ja auch nur schleppend in Gang. Anfangs gab es nur wenige Tweets und die üblichen Forenbeitrage auf Spiegel Online. Doch mit den täglichen Debatten-Beiträgen, der Ankündigung des Hauses Axel Springer, ihre Zeitungen an die Funke Gruppe abzugeben, und dem spektakulären Besoz-Deal, der eine ratlose Eigentümer-Familien von der Herausgeberschaft eines Traditionsblattes befreien und Neues ausprobieren will, da kam dann doch Leben in die Diskussion. Journalisten, Blogger, Kommunikatoren und jeder, der sich im Laufe der Jahre durch die aktive Nutzung der neuen Medienmöglichkeiten einen Namen gemacht hatte, meldete sich zu Wort. 

 

Ich kann mir so richtig vorstellen, wie sich das für Cordt Schnibben und interessierte Offline-Diskutanten angefühlt haben muss, mal eben in die lästerliche Welt der Twitter-Battles, der digitalen Hangout-Wortgefechte und des schadenfrohen Tumblr-Popcorns abzutauchen und wie im Haifischbecken mit den großen Fischen zu spielen. Respekt. Doch hat sich dieser Tauchgang aus meiner Sicht gelohnt. Check. Denn Meinungsmacher, deren Ansichten und Einstellungen noch weniger gut zueinander passen als ein Mashup von Mainzelmännchen und Katzenvideos, sprechen plötzlich miteinander. Ein Hoch auf die Debatte, möchte ich sagen. Diese fast vergessene Form der formalen Diskussion hält alle Beteiligten zu einem vergleichbar respektvollen Umgang miteinander an. Und dieser Gedanken führt direkt zu meiner These, die ich heute auf das Zeitungsmachen für morgen beziehe (auch wenn sie für alle Bereiche des Lebens anwendbar ist):

 

Eine eigene Haltung, Respekt für Andersdenkende und die Verbindung von Altem und Neuen ermöglichen Veränderungen.

Das Bild vom journalistischen Regenbogen habe ich gewählt, weil es mir beim Zeitungsmachen für morgen nicht nur um neue Techniken geht. Mir geht es eher um eine Neuausrichtung, die im Auge behält, wann wir Zeitung lesen und aus welchem Grund.

In der Debatte wurde viel von enttäuschten Erwartungen gesprochen, die als einer der Hauptgründe für die Zeitungskrise genannt werden. Doch jetzt, wo viele Analysen öffentlich dargestellt und diskutiert worden sind, ist es an der Zeit sich darüber Gedanken zu machen, was funktionieren kann. Bei mir lösen solche Experimente ein ähnliches Gefühl wie der Regenbogen hervor:

Die Aussicht auf Veränderung, die Verheißung von etwas Neuem, die mich freudig nach vorn schauen lassen.

Inspiriert von den Debattenbeiträgen zu #tag2020, einigen Artikeln und Blogposts, die in den letzten Tagen und Wochen zum Thema 'Zeitungskrise' veröffentlicht wurden, habe ich hier unter der Überschrift "I Have a Dream" meine ganz persönlichen sechs Wünsche an die Zeitung der Zukunft zusammengestellt.

 

1. Think big. Act small. Start now. Diese Philosophie wird eigentlich Social Media Managern auf den Weg gegeben. Doch sie könnte auch beim Zeitungsmachen funktionieren. Think big steht für eine Haltung, die ich von meiner Zeitung erwartet. Also den großen Überblick zu haben. Eine Haltung zu Themen anbieten, die aber von der Kurznachricht getrennt und als Meinungsartikel oder Kommentar gekennzeichnet ist. Act small fordert dazu auf, mit kleineren Änderungen anzufangen. Für mich spielt beispielsweise die sachliche Berichterstattung eine große Rolle. Auch eine Tageszeitung sollte aktuelle Ereignisse kurz und knapp auf den Punkt bringen. Dabei wünsche ich mir sowohl lokale und als auch überregionale Themen, die von gut informierten Redakteuren ausgewählt und zusammengestellt werden. Warum diese nicht - wie in meiner Twitter-Timeline - chronologisch sortieren? Das Ressort könnte wie eine Dachzeile über der Nachricht stehen, ergänzt durch ein thematisches Stichwort, so wie es der Hashtag bietet. Start now ist für mich die Aufforderung, Neues sofort auszuprobieren und nicht erst auf den nächsten Relaunch zu warten.

 

2. Leitgedanke und Orientierung. Von meiner Tageszeitung erwarte ich neben schnell erfassbaren Informationen eine Haltung zu den grundlegenden Fragen des Lebens. So wie der Spiegel über Jahrzehnte für eine bestimmte politische Richtung einstand, so möchte ich wissen, wie die Macher meiner Tageszeitung die Nachrichten einordnen und bewerten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es um die großen weltpolitischen Ereignisse oder eine kommunale Verfügung zum Anwohnerparken geht. Hier wünsche ich mir Kolumnisten-Kommentare, die - so wie bei Spiegel Online - für eine bestimmte Haltung stehen. Mir vertraute Journalisten kommentieren aus ihrer jeweiligen Perspektive die wichtigen Ereignisse des Tages - oder des Vortages. (Denn die besten Einfälle kommen machmal erst, wenn man die Gedanken schweifen lässt und ihnen Zeit gibt sich zu entwickeln.)

 

3. Glaubwürdigkeit und Transparenz. Wie entstehen Artikel oder Pressemitteilungen, werde ich regelmäßig bei meinen Seminaren über das Schreiben gefragt. Heute habe ich davon geträumt, unter einem Bericht eine Grafik zu finden, die den Entstehungsprozess eines längeren Artikels beschreibt. Die die erste Quelle nennt, den Faktencheck aufzeigt, die ersten Interviews mit beteiligten Akteuren, die Hypothesen, die der Journalist während der Recherche aufstellt und welche Informationen diese gestützt oder auch gekippt haben. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als Art Director Manfred Neussl für den jungen Focus die ersten Grafiken entwickelte, in denen er der Verlauf einer developing story graphisch aufbereitet hat. Das war damals really hot shit.

Dieser Teil meiner Vision beinhaltet natürlich vor allem den Wunsch, auch bei einer Tageszeitung vernünftig recherchierte Geschichten zu finden - eine Sehnsucht, die ich übrigens laut Christoph Krachten von Mediakraft mit ganz jungen Mediennutzern teile:

4. Nutzwert. Echte Journalisten schreiben keine nutzwertigen Artikel höre ich immer wieder. So etwas machen doch nur PR-Berater und Werber. Ja, das war vielleicht mal so. Heute gibt es viele Leser wie mich, die gern wissen wollen, was sie mit der gelesenen Information anfangen sollen. So ein Nutzen kann sein, dass mir ein politischer Redakteur nachvollziehbar erklärt, warum man nach einem Giftgasangriff einer Regierung in den Bürgerkrieg eingreifen will/soll/muss, aber solange nur tausende Menschen auf der Suche nach Nahrungsmitteln erschossen werden, dies politisch nicht geboten erscheint.

Bei dieser Interpretation von Nutzwert geht es mir in erster Linie um Orientierung, Horizonterweiterung und Inspiration. 

 

5. Vielfalt. Heute sprechen viele von multimedial, crossmedial, transmedial und allem, womit die Vielfalt der Verarbeitung von Content umschrieben wird. Als Entwicklerin von ambitiousTV, einem transmedialen Format, das Jugendlichen auf unterhaltsame Weise bei der ersten beruflichen Orientierung unterstützen möchte, bin ich ein großer Fan von neuen Techniken, die journalistische Erzählformen interessanter und anschaulicher gestalten. Doch nur dort, wo es passt. Beim schnellen Lesen einer Tageszeitung nehme ich mir keine Zeit für einen #snowfall. Gleichzeitig möchte ich Grafiken, die Daten zu Geschichten aufbereiten und nur weniger erklärender Worte bedürfen. Als bekennender Fan der Infografik finde ich den Ansatz von Reshaping New York geradezu genial. Mehr davon, please! So etwas neben dem klassischen Kommentar eines versierten Gatekeepers oder einer toll fotografierten Bildergeschichten aus der Region. (Hamburg fotografiert auf Facebook macht es uns vor). Alles ist möglich. Und auf Seite Drei wünsche ich mir vielleicht doch die Longform als Reportage, Debattenbeitrag oder Essays. Vielleicht lese ich die später in der Mittagspause oder in der Bahn auf dem Weg nach Hause. 

 

6. Umdenken. Nur wer sich verändert, lebt. Als großer Fan von Work-in-Progress glaube ich schon, dass man Lesern zumuten darf, immer wieder mit neuen Darstellungsformen zu experimentieren. Man sollte sie nur thematisch einbinden und die Diskussionen um Stilmittel dialogisch anlegen.

Ach ja, und da wären noch diese modernen, unrealistischen Leadership-Thesen wie "Kick up. Kiss down", die anlässlich des Bezos-Deals erneut an die Oberfläche gespült worden sind. Das geht aus deutscher Sicht doch gar nicht, oder? Gern verfalle ich jetzt wieder in den Traummodus und sage leise vor mich hin: 'Warum nicht, Jungs? Einfach mal ausprobieren!'

 

Tja, und jetzt wissen Sie auch, warum ich von einem journalistischen Regenbogen gesprochen habe. Vieles von dem, was ich mir wünsche, wird aktuell kaum umzusetzbar sein. oder doch? 'Think big. Act small. Start now.'

 

Vielen Dank, Cordt Schnibben, das Thema Zeitungskrise haben Sie für Ihre Multimedia-Story gut gewählt. Jetzt bin ich gespannt auf die Umsetzung Ihrer Zeitung für morgen. 

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