#tag2020 – die Tageszeitung lebt! Meine Gedanken zur Zeitung von morgen  

Zeigen, was geht: Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben (Foto: C. Brandes-Visbeck)
Zeigen, was geht: Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben (Foto: C. Brandes-Visbeck)

Von Christiane Brandes-Visbeck 

 

Die Einladung kommt zeitgemäß über Twitter: Ob ich Lust hätte, mir den Entwurf der Tageszeitung (TZ) von morgen anzusehen, fragt New New Journalism aka Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben. Das ist der Mann, der Anfang August  2020Die Zeitungsdebatte initiiert hat, der unzählige Foren-Kommentare, Twitter-Nachrichten mit dem Hashtag #tag2020 und Facebook-Posts gescannt hat, um die besten Ideen für seinen Prototyp der Zeitung von morgen herauszufiltern. 


Respekt, Schnibben will es wirklich wissen. Und fragt mich, die ich ja mit ambitiousTV so ein bisschen Transmedia-Lab spiele. Klar, da sage ich natürlich nicht nein! Und so finde ich mich an der Ericusspitze ein, um mir das Konzept für sein Meisterwerk anzusehen. Es entpuppte sich als eine Serie von Präsentationspappen für eine Zeitungsapp, die er in den letzten Wochen mit seinem Multimedia-Team entwickelt hat. 

 

Best-Case-Szenario für die Zukunft

 

Und so tut es gut, fernab der Büchner-Blome-Spiegel-KG-Auseinandersetzung an einem Thema zu arbeiten, bei dem es ganz einfach nur darum geht, Reaktionen auszuwerten und mit diesen ein Best-Case-Szenario für die Zukunft zu entwickeln. Was als ambitioniertes Projekt eines engagierten Spiegel-Redakteurs begann, der sich ein bisschen von der Realpolitik seines Verlages ablenken wollte, hat nun die Chance, die erstarrte Zeitungslandschaft in die mobile Medienwelt zu überführen. Schon jetzt schicken Zeitungsverleger ihre New-Media-Guys zu Cordt vom "Spiegel", der ihnen 

– ganz ehemaliger Werber – nonchalant präsentiert, was der Leser/Nutzer/User in Zukunft von seiner Zeitung erwarten kann. Und so sitze auch ich in Schnibbens Büro mit Blick auf die Speicherstadt und blättere durch sein hübsch logisch gezeichnetes Pflichtenheft, das seine Programmierer in eine Hingucker-App umsetzen werden.

 

Vom User-Feedback zum schlüssigen Konzept

 

Die Architektur der Anwendung ist bestechend, die Kurztexte prägnant – alles so, wie ich es von einem, der Menschen mit Texten begeistert, erwartet habe. Die Newspaper-App basiert auf sechzehn Thesen, die Schnibben aus den unzähligen Leser-Kommentaren herausgezogen hat: "Über 1.000 Leser antworteten. Schimpften, lobten, argumentierten, pöbelten, schwärmten", schreibt der Zeitungsretter in seinem Intro zu seinem modernen Zeitungsdings. Ach ja, auch ich gerate ins Schwärmen. Das Konzept wirkt schlüssig, der Kreator ist begeistert von seinem ungeborenen Baby und ich bin geblendet von der anwenderfreundlichen Lösung, die der Zeitschriftenmann den Zeitungsjungs präsentieren wird.

 

Roundup für den Tag

 

Sie heißt "Berliner/Hamburger/ Kölner/hmhmhm Abendzeitung". Sie erscheint folglich am Abend, sozusagen als Roundup für den Tag, als Infoquelle für den interessierten Smartphone-User. Dieser erwartet, das sagen alle Leser, journalistische Qualität. Diese setzt natürlich auch der Spiegel-Redakteur voraus. Den zeitgemäßen Gedanken folgend, sortiert Schnibben die Nachrichten nicht nach Ressorts, sondern nach Relevanz. Wer will, kann seine eigenen Themenkanäle personalisieren, man muss das aber nicht. Leser gelten in der Welt der Zeitung von morgen als Sparringspartner. Sie mutieren von lästigen Leserbriefeschreibern zu gern gesehenen Informanten, die eigenen Content liefern, aber auch journalistische Beiträge mittels ihrer Expertise, ihres Weltwissens und exklusiver Hintergrundinformationen mitgestalten. Das Inhaltespektrum balanciert zwischen überregional und lokal, nachrichtlich und gebloggt. Und das, was die User richtig spannend finden, das wird von den Machern als journalistische Kampagne weiterverfolgt. Wow.

 

Multimedialer Snowfall oder journalistischer Regenbogen?

 

Überhaupt wird hier Service großgeschrieben. Nutzwert ist für Journalisten von morgen kein Schimpfwort mehr. Mehrwert ist relevant, gehört dazu. Ebenso, die Inhalte als Podcast zum Abhören bereitzustellen. Und so klingt alles zu schön, um wahr zu sein. Das finden offensichtlich auch die Verlagsvertreter, die reihenweise diese App bestellen wollen, natürlich optisch angepasst ans eigene Look & Feel. Hoffen wir, dass sie nicht nur eine gemeinsame Werbekombi planen, sondern sich auch über journalistische Darstellungsformen austauschen, diese vielleicht gemeinsam in einem New Content Lab weiterentwickeln.

 

Gibt es eigentlich schon redaktionelle Ideen zum Datenjournalismus? Wird bei den Textsorten eher an Snowfall oder einen journalistischen Regenbogen gedacht? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Denn vor lauter Begeisterung für Schnibbens sechzehn Wege in die Zukunft habe ich ganz vergessen zu fragen, ob sie auch mit multimedialen Inhalten experimentieren werden.

 

Egal. Das werden die Zeitungsmacher von morgen selbst entscheiden.

Jungs, wir müssen reden!

 

Hier geht es zur "Abend"-App des Spiegel-Teams:

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